Er saß bei uns und erzählte Sagen und Märchen, Geschichten und Schwänke, unbekannte und bekannte aus alter und neuer Zeit. So aber, wie er sie erzählte, haben wir sie nie gehört, so lebhaft verstand er sie uns auszumalen, sie mit wenigen Gesten, mit sparsamer Mimik, mit vollendeter Beherrschung der Sprache frei erzählend wiederzugeben.
So hörten wir die Sage vom Ritter von Bolanden und seinen sieben Söhnen, von dem Wunderzeichen, das im Tode des Vaters den Söhnen das Leben rettete, die Erzählung vom unverhofften Wiedersehen, die in ihrer Schlichtheit, in der Ergebung in das Schicksal und der rührenden Dankbarkeit so ergreifend ist, das Märchen von der Jungfer Marlen, die in Treue, Beharrlichkeit und Ergebung ausharrt, bis sie stolz und menschlich so groß sich als die rechte Braut bekennt.
Das Bäuerlein aber im Himmel, den Wettlauf zwischen Hase und Swinegel und den Schmied von Jüterbog (meisterhaft im schwäbischen, niederdeutschen und münchner Dialekt vorgetragen, echt in Wort und Tonfall) sahen wir so lebhaft vor Augen, und mit hellem (sagen wir nicht kindlichem?) Jubel verfolgten wir ihre Streiche.
So stellte er uns auch Kleists unvergängliche Anekdote dar, den Soldaten und den Wirt, der ihm zitternd einen und noch und noch einen einschenkt, indes schon die Franzosen herankommen, und den Alten, der der Versuchung nicht widerstehen konnte, als sogar die Kirchenglocken „Pomeranzen“, „Kümmel“ und „Anisette“ riefen. Wer sah bei der russischen Erzählung vom ungewaschenen Soldaten nicht die struppigen Haare, den langen Bart, die zerlumpte Kleidung, in dem schmutzigen Gesicht, aber die herrlich leuchtenden Augen, die es der jüngsten Königstochter angetan haben? Als aber zum Schluss der dicke fette Pfannkuchen rollte und rollte und wollte sich nicht fangen lassen, bis das Schwein ihn überlistete, da wollte keiner nach Hause gehen, und der Dank wurde mit Zugaben belohnt, bis Jan rief, Modder, de Pitter is mit de Klompen tau Bedd gan.
So gingen wir durch die stillen Strassen nach Hause, dankbar für das Erleben des gesprochenen Wortes. Denn es war ja nicht allein der Inhalt der Erzählten, der die Jungen fesselte, die Älteren loslöste aus dem Alltäglichen, sondern das Wesentlichste ist die Handlung der Erzählens. Wir kennen, soweit uns überhaupt das Wort beschäftigt, nur das gedruckte Wort, und wenige nur können aus ihm die Fülle lesen, die es in sich birgt. Der Erzählende aber gestaltet mit seinen Worten wie der Dirigent aus der Partitur, und das ist der Genuss, den wir heute dem Meister des Erzählens danken. Er hat auf Wanderungen gesucht, wo die ursprüngliche Volksgabe des Erzählens noch erhalten ist, wie sie der Frau Viehmann zu eigen war, die den Brüdern Grimm die Märchen erzählte, und wie sie der alte Müchner besaß, der unserm Erzähler die Geschichte vom Schmied von Jüterbog berichtete. So natürlich-ungezwungen, wie sie ihm erzählt worden ist, gab er sie uns wieder, und hier scheint uns ein Wesentliches zu liegen. Bei aller Vollendung seines Vortrags steht Poiess der Artistik des Vortagskünstlers fern, die sich in bloßer Brillanz der Wortkunst ergeht. Uns aber möchte er nahe stehen, uns das schöpferische Erzählen zeigen, wie es in früherer Zeit dem ganzen Volk zu eigen war, wie wir selbst es pflegen sollten, für unsre Familie, für den geselligen Kreis. Wenn wir so in seinem Erzählabend eine Anregung sehen, so danken wir ihm doppelt, und wir wünschen uns ein Wiedersehen, Wiederhören, an dem recht viele teilnehmen sollten.
Erzählabend von Bernd Poiess um 1950 im „Hause Hollender" in Usingen, niedergeschrieben von Herwig Spieß, Regierungsbaurat, von 1947 bis 1951 Leiter des Staatsbauamtes Usingen